Kunst und Freiheit II

Eine interdisziplinäre Suche nach dem Wesen der Kunst.*

„Jeder Mensch ist ein Künstler.“ – sagte Joseph Beuys. „Everybody sensitive is an artist.“, formulierte Cartier-Bresson. Jedenfalls besitzt jeder Mensch die Anlagen zur Gestaltung. Ich will nicht spitzfindig sein, aber lassen Sie uns sagen: Grundsätzlich könnte jeder (sensible) Mensch Kunst.**

Warum findet man aber die Mona Lisa aber gemeinhin besser als irgendein Strichmenschchen? Es gibt also qualitative Unterschiede.

Wieso gab es vor der Renaissance lange Zeit kaum Kunst? Wieso entsteht unter totalitären Regimen keine Kunst? Welche Rahmenbedingungen ermöglichen große Meister mit einer Strahlkraft wie Rembrandt, Turner und Cartier-Bresson?

Um dies aufzulösen, müssen wir Kunst und Freiheit verstehen. Wie sie hoffentlich gleich lesen werden, geht es genauer gesagt um das Verhältnis von Kunst, Ordnung(en) und Freiheit.

1.         Kunst

Kunst ist eine „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache, hier der Fotografie, zur Anschauung gebracht werden.“ (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Februar 2018 – 1 BvR 2112/15, Rn. 13 – mit weiteren Nachweisen – www.bundesverfassungsgericht.de).*** Für unseren heutigen Zweck benötigen wird einige der differenzierenden Kriterien nicht – machen wir es uns einfach übersichtlich und versuchen zu verstehen, indem wir uns auf den Wesenskern beschränken:

Kunst ist schöpferische Gestaltung.

Dieses Phänomen ist notwendigerweise (für diesen Text: im Sinne „von Natur aus“) frei. Es geht jeder Ordnung voraus. Denn: Damit sich eine Ordnung ergeben kann, brauchen Sie erst einmal eine zu ordnende Materie. Wo nichts ist, gibt es einfach nichts zu ordnen und nichts, was sich ordnen könnte. Nur weil vor der Materie (oder wenn Sie mögen „Adam und Eva“) schon Licht gewesen sein mag, folgt daraus keine Ordnung. Ein Bedürfnis nach Ordnung ergibt sich erst aus Materie.

(Kommen Sie mir nicht mit dem Huhn und dem Ei. Halten Sie es wie ein Richter. Der ist „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“. Er kann auch gar nicht dagegen verstoßen. Auch Sie kommen nicht an dem physikalischen Zusammenhang, hier der Reihenfolge, vorbei. Das erste Huhn kam zwar aus einem Ei. Das Ei hatte aber gar kein Huhn gelegt. Falls Sie mir nicht glauben: Wo kommt denn die erste Katze einer neuen Rasse her? Sie mögen keine Katzen? Nehmen Sie Hunde. Sie sagen, eine neue Rasse ist auch ein Hund? Das stimmt. Wie hieß nochmal das Tier vor dem Hund?)

Auch wenn Kunst als Schöpfung einfach frei ist, versuchten Menschen sich anzumaßen, das Phänomen Kunst zu limitieren. Wie die Geschichte uns lehrt, gelang dies jeweils nur auf Zeit – weil es unmöglich ist.

2.         Freiheit

Wenn Kunst (in naturwissenschaftlicher Hinsicht) sowieso frei ist, könnte ich eigentlich hier aufhören. Sie wissen aber noch nicht, was ich meine.

Es ist schwer, Freiheit (für alle Geisteswissenschaften fachübergreifend postiv) zu definieren. Für den Zweck des heutigen Textes reicht die Methode der Negativdefinition aus.

Freiheit im Sinne der Kunstfreiheit bezieht sich auf den Regelungskontext des Grundgesetzes. In diesem Rahmen wird Kunstfreiheit „vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos“ gewährleistet (Bundesverfassungsgericht, wie vor, Rn. 18). Für die Frage nach dem Wesen der Kunst hilft dies nicht viel weiter. Das Grundgesetz ist die (hiesige und gegenwärtige) Erkenntnis der geisteswissenschaftlichen Erfahrung der Menschheit. Das ist viel. Wir müssen auch nur einige dieser Grundlagen zumindest kurz aufgreifen.

Physikalisch gesehen ist die Unendlichkeit frei. Das Licht ist recht frei, jedenfalls breitet es sich allgegenwärtig aus. Selbst im Schatten ist etwas Licht. Verhältnismäßig geringe Mengen des Lichts können Sie steuern, beispielsweise um ein Foto zu machen oder Ihren Wohnraum angenehm zu gestalten.

Da es Menschen aber zumindest zeitweise gelang, Kunst zu beschränken, reagiert Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“) auf Unfälle der Geschichte, durch die schöpferische Gestaltung, oder wenn Sie mögen Evolution, ins Stocken oder zum Erliegen geriet. Diese Fälle ermöglichen uns zu verstehen, wieso Evolution zeitweise hinter ihre natürlich gegebene Hochleistungsfähigkeit zurückfiel. Kulturen, die dieses Rätsel lösten, brachten hingegen schöpferische Höchstleistung auf und erlebten ein „goldenes Zeitalter“.

Lassen Sie uns also einmal besehen, wie es zeitweise passieren konnte, den Gang der Dinge zu behindern.

a.         Ordnung(en)

Ordnungen schränken Freiheit ein, wenn Sie über das Notwendige hinausgehen. Eine Freiheit von notwendiger Ordnung gibt es hingegen nicht. Wenn Sie zwei Bilder gemalt haben und sie aufhängen, haben Sie eine Hängung. Das ist eine Ordnung. Daraus ergibt sich keine Einschränkung.

Auch Ordentlichkeit ist keine Einschränkung der Freiheit. Beispielsweise in Niederlanden oder Schweden sind Toiletten regelmäßig sehr sauber. Die Niederlande haben einen sehr hohen Output richtig guter Kunst. Schweden ist eine große Marke in Fotografie und Design. Freiheit hat also nichts mit Unordnung zu tun.

b.         Respekt und Würde

Man kann sich einmal fragen, warum es in den Niederlanden und Schweden sehr aufgeräumt ist. Ein Grund könnte sein, dass es in den Niederlanden keine Putzfrauen****, sondern Schonmaker – Schönmacher sind, die Ordnung in notwendigem Maße herstellen – Schönheit. Der Begriff ist ein Indiz dafür, dass man diesen Mitmenschen den angemessenen Respekt entgegen bringt und sich nicht über Sie stellt, indem man für sie eine Kategorie bildet und versucht sich höher als sie zu definieren. Dies ist Würde durch Augenhöhe.

Auch ist es nicht bloß der Respekt vor der Würde der Anderen, sondern auch eine Frage der eigenen Würde, einen jeden Ort ordentlich zu hinterlassen.

Missverstehen Sie mich nicht. Dies soll keine Moralpredigt, sondern eine Analyse sein. Wenn Menschen in einer Gesellschaft schlecht behandelt werden oder die Gesellschaft so hohe Anforderungen an ihre Mitglieder stellt, dass sie nicht mehr erfüllbar sind, treten Ausfälle auf. Umstände wie Verfall oder schlechte Hygiene öffentlicher Einrichtungen können Indizien für ein schlechtes gesellschaftliches Klima sein.

Auch wenn Menschen beschuldigt werden (unerheblich ob vermeintlich „zu Recht“ oder ohne Grund und/oder Anlass) sind sie erst einmal mit dem Schuldvorwurf beschäftigt und haben in dieser Zeit keine Leistungsfähigkeit. Wenn der Beschuldigte einen Schuldvorwurf akzeptiert, hat der Ankläger erreicht, wovor er eigentlich Angst hat und es eigentlich verhindern wollte. Wenn Sie beispielsweise einen Ausländer faul nennen bis er traurig in der Ecke sitzt – dann haben Sie sich selber einen faulen Ausländer gemacht.

Je mehr die Menschen sich Sein lassen (so wie der Andere ist), desto größer ist die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. (Gemeint ist hier nicht Gleichgültigkeit, sondern Respekt.)

c.         Erhabenheit

Erhabenheit bedeutet nicht, über Anderen zu stehen. Erhabenheit ist in der Rechtsordnung in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz definiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Erhabenheit ist der definitorische Inhalt des Wortes Würde. Ein Mensch zu Sein. Und ein jeder Mensch ist (so wie er ist). Erhabenheit bedeutet, dies zu respektieren. Erhabenheit ist der Stoff, aus dem Menschen bestehen – so übrigens auch der (soziale liberale) Rechtsstaat (als Summe seiner Einwohner).

(Sozial und liberal sind eigentlich überflüssige Klarstellungen. Nur in sozialen und liberalen Staaten funktioniert das Recht. Recht kommt nämlich aus den Richtern. Richter sind aber nur Richter, wenn sie unabhängig sind. Ein außerhalb des von ihm moderierten gerichtlichen Verfahrens beeinflusster Richter wäre aber nur ein Beamter in Robe. Beamte sind aber nicht unabhängig. Richter sind übrigens unabhängig, weil die erste Ausübung von Staatsgewalt durch Richter erfolgte – als das erste mal ein Mensch zwei Streitende auseinander und wieder zusammen brachte.)

d.         Gewalt, Drohung und Täuschung

Wenn einem Menschen Gewalt oder Drohung zugefügt wird, wird er nicht tun, was der Angreifer von ihm erwartet. Vielleicht wird er augenscheinlich so tun. Auch der Getäuschte handelt in Wahrheit nicht mehr selbst. Er bedient ein Schauspiel. Betroffen von Gewalt, Drohung oder Täuschung wird der Angegriffene zum Werkzeug. Er ist also nicht mehr er selbst, er tut nur noch so. Er ist nicht mehr frei. Er wird hinschmeißen und/oder weglaufen.

Deshalb gab es im Mittelalter keine Kunst. Durch die Allgegenwart von Gewalt, Drohung und Täuschung gab es keine Freiheit. Man ließ die Menschen nicht sie selbst sein. Die Evolution kam zum Stehen. Keiner hatte mehr Lust etwas zu schöpfen.

e.         Wissen, Kultur und Soziale Sicherheit

Erst mit der Renaissance setzte sich wieder das Wissen durch, dass es sinnlos ist Menschen durch Gewalt, Drohung und Täuschung ihrer Persönlichkeit zu berauben. Man griff das Wissen der römischen Demokratie wieder auf, knüpfte daran an und gelangte so zu besserer Kunst.

In der spätrömischen Diktatur zeigte sich demgegenüber ein Prozess der Zunahme von Täuschung und Gewalt, der im Mittelalter und seinen Hungernöten mündete. Sie malen auch keine Bilder, wenn Sie sich erst einmal um ihr Essen kümmern müssen. Eine Gesellschaft muss erst Leistungsfähigkeit in einem Umfange aufweisen, die es ihr ermöglicht, Arbeitskraft für die schönen Dinge abzustellen.

Darüber hinaus muss zumindest die Elite des Landes über eine Bildung verfügen, die die Bedeutung von Evolution und Schöpfung und damit die Schönheit der Kunst erkennt.

f.         Viel Bildung für alle

Je breiter dieses Wissen in der Bevölkerung verfügbar ist, desto besser klappt es mit der Evolution. Optimalerweise wirkt der Effekt exponentiell.

Falsches Wissen führt hingegen zu falschen Wertungen. So verfällt Kultur.

g.         Die Schöpfungsgeschichte revisited: Mind the snake!

Der Sachverhalt zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Februar 2018 – 1 BvR 2112/15 erinnert ein wenig an die Schöpfungsgeschichte. Die Entscheidung könnte man als Anknüpfung an den ursprünglichen Rat ansehen (muss man aber auch nicht).

Ich glaube nicht, dass das Licht, der Urknall, Gott, Allah, (darf man nicht sagen) oder wie sie den Beginn nennen wollen, etwas gegen Frauen, Äpfel oder Bildung hat. Dummheit ist auch kein Segen – zu viele Nebenwirkungen. Die Schlange ist ein Bild. Die Moral von der Geschichte ist: Meide die List. Sonst klappt das mit dem Wissen nicht.

Beispielsweise werden in totalitären Staaten Tatsachen verdreht oder inszeniert – weil es der Elite nicht gelingt, den Einwohnern die den Staat tragenden Wertungen zu vermitteln. Das fällt auf. Der Staatsapparat versucht sich durch Gewalt(-androhung) und List zu erhalten. Die Geschichte lehrt, dass eine davon betroffene Gesellschaft nur erhalten werden kann, wenn die Wahrheit wieder Raum greift und die Elite die Lebenswirklichkeit der Gesellschaft durch Übernahme der allgemeinen Wertungen akzeptiert.

An Staaten, Institutionen, und Personen, die mit sich im Reinen sind, prallt Kritik ab, wie von Teflon. Wer Gewalt androht oder List übt, verrät vielmehr etwas über sich selbst.

3.         Mehr bessere Kunst

Wenn wir noch mehr bessere Kunst wollen, müssen wir nur die Künstler loslassen und Kunst sein lassen was sie ist: Reine schöpferische Gestaltung. Sie können es auch Evolution nennen – wie Sie es sehen.

Das bedeutet auch, dass sie keine Politik und keine Religion ist. Religion und Politik sind (aufgrund des Gesetzes der Reihenfolge) nachgeordnete (Wert-)Ordnungsprinzipien. Das heißt nicht, dass sie „schlechter“ (im Sinne eines Nachrangs) sind. Es sind einfach verschiedene Phänomene. Das heißt nicht, dass es nicht beabsichtigt oder unbeabsichtigt Wechselwirkungen gibt. Und Zusammenhänge machen verschiedene Kategorien nicht gleich.

Kunst darf auch Politik. Kunst darf auch Religion. Vielen Künstlern geht es aber gar nicht um den Transport von Wertungen. Erst einmal ist Kunst Dienst an der Ästhetik mit den Mitteln der Ästhetik. Eine Freiheitseinschränkung wäre es auch, einem Künstler politische Intentionen zu unterstellen, obwohl es ihm nur um die Fragen der Formen und Farben geht. Ich sehe beispielsweise den Verdienst von Susan Meisalas darin, dass sie in dem vermeintlich Banalen das Schöne findet. Das ist Achtung des Menschen. Das ist Erhabenheit.

Was ich Ihnen sagen will, ist: Ärgern sie Künstler nicht, indem Sie sie provozieren, (versuchen zu) instrumentalisieren oder moralisieren.

Freiheitseinschränkungen beginnen mit Beeinflussung. Mit Täuschungen endet die Freiheit. Wollen Sie wirklich Paradisverbot? Spass beiseite – ich habe allen Freunden von Rache, Sühne, Schuld und Strafe angedeutet, wie viel das bringt. Machen Sie sich nur klar: Ein getäuschter Mensch wird ein wachsamer Mensch. Wachsamkeit ist eine starke Freiheitseinschränkung. Sie begrenzt den Raum für Persönlichkeit. Täuschung und List können Persönlichkeiten schädigen. Kein Adressat von List wird zu einem besseren Menschen. Vielleicht wird er resilent. Resilenz schränkt die Sensibilität ein. Das wollen Sie nicht.

Notwendige Ordnung stellt sich von selbst ein. Wie wir in einer Gesellschaft leben wollen, entscheiden wir jeden Tag. Wenn Künstler nicht verklagt oder angeschuldigt werden, ist ihre Freiheit gar nicht erst bedroht.

Je freier der Mensch / die Gesellschaft, desto besser die Kunst.

Ach ja, die Frage mit der Mona Lisa ist noch offen: Die Mona Lisa finden Sie besser, weil sie gegenüber einem Strichmännchen auf der Jagd, abgebildet in einer steinzeitlichen Höhle, das gesamte Wissen der Menschheit über bildliche Gestaltung in einer komplexen Komposition beinhaltet. Auch wenn sie das nicht verstehen, spüren sie das. Das Strichmenschchen Ihres Kindes finden Sie noch besser – weil Ihr Kind Sie und nur für Sie gemalt hat.

Und schließlich: Ist es überhaupt Kunst, wenn es ehrverletzend oder ekelig ist?***** Müssen wir diese Frage überhaupt klären? Wir alle haben ästhetisches Empfinden – „Da kann man nicht hinsehen.“ Sie werden sich intuitiv abwenden. Da die meisten sich von Ekeligem abwenden, hält der Schaden sich in Grenzen.

* Im Rahmen des Beitrags soll Kunst aus den Perspektiven der Rechtswissenschaft und der Kunstgeschichte unter Zuhilfenahme von ein wenig Physik beleuchtet werden. Bestenfalls ergeben sich daraus ökonomische Erkenntnisse.

** Es wäre nicht fair, jemanden in eine Kategorie zu limitieren, der er gar nicht angehören möchte. Der „Wille zur Kunst“ ist also eine berechtigte Kategorie der Kunsthistoriker. Damit geht es los. In der Sprache der Juristen würde man sagen, es handelt sich um eine konstituierende Tatbestandsvoraussetzung. Wenn beispielsweise ein Hochschullehrer der Physik zu irgendeinem anschaulichen Zweck für seine Studenten ein Stichmenschchen an eine Tafel schreibt, will er nicht ästhetisch tätig werden. Er will einfach ein linguistisches Symbol für Mensch und damit eben letzteren Inhalt kommunizieren.

(Für diesen Beitrag kommt es auf das Phänomen der nachträglichen „Zur-Kunst-Erklärung“ nicht an.)

*** Die Gerichte respektieren regelmäßig die herrschende Meinung in der jeweils zuständigen Fachwissenschaft, so hier der Kunsthistoriker, Medienwissenschaftler und Fototheoretiker (vgl. ggf. Belting u.W., Kunstgeschichte) – selbstverständlich erst nach Prüfung der allgemeinen Sorgfaltsvoraussetzungen der Wissenschaften – „Schlüssigkeit“.

**** Wenn Sie sich nun darüber aufregen, dass es hier nicht Putzmann heißt, sind Sie übrigens keine Feminist(in), sondern Wortklauber(in) und Fiesling(in). Das mit dem Feminismus kommt von der Gleichberechtigung. Wenn Sie vom totalen Sieg der Frau träumen, haben Sie es einfach nicht verstanden. Hören Sie endlich auf, den anderen Mädels in den Rücken zu fallen. Ja, sie dürfen auf Unterdrückung stehen. Dann suchen Sie sich den passenden Typen – aber schreiben sie den anderen Frauen nicht vor, wie sie zu leben haben oder auf was sie zu stehen haben. Es ist echt mies der Sache mit der Gleichberechtigung in den Rücken zu fallen.

***** Es ist (im Zweifel) Kunst (im Sinne des Grundgesetzes). (Persönlich) Ehrverletzende Äußerungen sind aber nicht geschützt. Dann ist die Person des Anderen höherwertiger.

Wenn Sie nur beleidigen wollen, haben Sie keinen Kunstwillen (siehe *). Sie sind kein Künstler (jedenfalls nach der Meinung in der Kunstgeschichte, die als entscheidendes Kriterium auf den Kunstwillen abstellt). Sie missbrauchen die Kunstfreiheit.

Kunst und Freiheit

Was ist eigentlich Kunst? Was ist eigentlich Freiheit? Das Bundesverfassungsgericht erklärt es Ihnen auf faszinierende Art und Weise.

Die Geschichte

Der beklagte Fotograf veröffentlichte eine Straßenszene „auf einer großformatigen Stelltafel an einer der verkehrsreichsten Straßen einer Millionenstadt“ (Rn. 24). „Im Mittelpunkt der Aufnahme steht die Klägerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Klägerin). Sie hält eine Handtasche in der einen sowie Plastiktüten in der anderen Hand und überquert an einer Ampel die Straße. Sie trägt ein Kleid mit Schlangenmuster, ihr Körper nimmt etwa ein Drittel des Bildes ein. Die Klägerin scheint in Richtung der Kamera zu blicken, ihr Gesicht ist gut erkennbar […]“ (Rn. 2) Die Klägerin wandte sich gegen die Veröffentlichung: „Ihr Bildnis sei über Wochen überlebensgroß an einer vielbefahrenen Straße der Öffentlichkeit präsentiert und sie so aus ihrer Anonymität gerissen worden. Es sei auch nicht auszuschließen, dass im Bekanntenkreis der Klägerin der Eindruck habe entstehen können, sie habe sich gegen Bezahlung fotografieren lassen.“ (Rn. 4)

Nachdem der Beklagte bereits außergerichtlich eine strafbewährte Unterlassungserklärung abgab, hat das Landgericht ihn verurteilt, der Klägerin entstandene Anwaltskosten zu zahlen: „Das Foto sei nicht im Rahmen einer Ausstellung als eines unter vielen, sondern großformatig, die gesamte Fläche einer Stelltafel einnehmend an einer der verkehrsreichsten Straßen der Stadt zur Straße gewandt präsentiert worden.“ (Rn. 5) Die darüber hinausgehende Klage auf Lizenzschadensersatz wies es ab. Das Kammergericht hat die Berufung des Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

Die Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde des Beklagten nicht zur Entscheidung angenommen. Das Gericht stellt aber unmissverständlich die Bedeutung der Kunstfreiheit heraus:

„Von der Kunstfreiheit ist nicht nur das Anfertigen der Fotografie, sondern auch deren Zurschaustellung im Rahmen einer öffentlich zugänglichen Ausstellung erfasst.“ (Rn. 14)

„Dabei gibt das Grundgesetz den Zivilgerichten regelmäßig keine bestimmte Entscheidung vor. Die Schwelle eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist erst dann erreicht, wenn die Auslegung der Zivilgerichte Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte beruhen, insbesondere vom Umfang ihres Schutzbereichs, und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind, insbesondere weil darunter die Abwägung der beiderseitigen Rechtspositionen im Rahmen der privatrechtlichen Regelung leidet.“ (Rn. 17)

„Das Kammergericht hat die Bedeutung und Tragweite der Kunstfreiheit bei der Zuordnung des Bildnisses zum Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Nr. 4 KUG und in das Ergebnis seiner Abwägung im Rahmen von § 23 Abs. 2 KUG einbezogen (vgl. BVerfGE 120, 180 <223>) und ist dabei auch den Eigengesetzlichkeiten der Straßenfotografie gerecht geworden. […] Damit hat das Kammergericht die ungestellte Abbildung von Personen ohne vorherige Einwilligung, welche strukturtypisch für die Straßenfotografie ist (vgl. Hildebrand, ZUM 2016, S. 305 <309,311f.>), nicht generell unmöglich gemacht.“ (Rn. 24)

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Februar 2018 – 1 BvR 2112/15 – www.Bundesverfassungsgericht.de)

Ein paar Gedanken zur Entscheidung

Die Entscheidungen des Landgerichts und des Kammergerichts zeichnen sich durch eine sorgfältige Abwägung anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus. Das Ergebnis ist vertretbar begründet. Weder Akte noch Prozessverlauf im Einzelnen sind hier bekannt. Aus taktischer Perspektive fällt auf, dass der Beklagte möglicherweise schon erstinstanzlich Verteidigungsmöglichkeiten nicht erkannt hat.

Das Bundesverfassungsgericht respektiert die spezifischen prozessualen Grundsätze des Zivilverfahrens, insbesondere die Dispositionsmaxime der Parteien, und die sorgfältige Arbeit der Instanzgerichte. Das Gericht deutet an, dass eine andere Entscheidung vielleicht möglich gewesen wäre, aber nicht geboten ist.

Das Bundesverfassungsgericht gewährt Freiheit, indem es den Künstlern ihre Spielräume belässt. Und eben das ist eine gewichtiger Aspekt der Freiheit – die Anderen Sein zu lassen. Eine weise Entscheidung.

Ideen für betroffene Fotografen und Kreative

Lassen Sie sich frühzeitig rechtsanwaltlich beraten. Grundsätzlich gilt: Je früher Sie sich beraten lassen, desto besser kann Ihnen geholfen werden.

Streitentscheidende Normen

Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.

Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen, Art. 97 Abs. 1 GG.

Allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 1. Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG.

who is

Dr. Michael Schellong (Bild: er selbst)

curriculum vitae

2001 – Studium der Rechtswissenschaften in Münster, Westfalen

2006 – Erstes Staatsexamen

2006 bis 2009 – Rechtsreferendariat beim Landgericht Dortmund

seit 2006 – Lehraufträge in Zivilrecht, insbesondere Allgemeinem Schuldrecht, Kaufrecht, Werkrecht und Sachenrecht

2009 – Zweites juristisches Staatsexamen

2009 – Gründung der Kanzlei in Münster

2011 bis 2018 – Richter der Sozialgerichtsbarkeit

2016 – Promotion zum Doktor der Rechte durch die Universität Mannheim

2019 – Gründung der Kanzlei in Bochum